Miscellanea Bulgarica 12, Wien 1998


WECHSELBEZIEHUNGEN IN DER NAHEN UND FERNEN VERGANGENHEIT

Milčo Lalkov

Der französische Schriftsteller und Pädagoge François Fénelon vertrat die Ansicht, ein guter Historiker liebe sein Vaterland, aber er schmeichle ihm niemals und um nichts. Dieser Forderung nach Objektivität entsprechen auch die bulgarischen und österreichischen Autoren der ... Beiträge dieses Sammelbandes. Sie analysierten die Geschichte der Beziehungen beider Länder unter politischen, wirtschaftlichen, sozialen, militärischen und kulturellen Aspekten.

Der lange Zeitraum von fast 120 Jahren ist von unterschiedlichen politischen Abläufen in Europa geprägt. So stand dem Kleinstaat Bulgarien, 1877/78 als Folge des Friedens von San Stefano und des Berliner Kongresses entstanden und ab 1879 von deutschstämmigen Monarchen regiert, bis 1918 die Großmacht Österreich-Ungarn gegenüber. Nach dem Ersten Weltkrieg glichen sich die Größenverhältnisse aus. Doch Bulgarien blieb zunächst eine Monarchie, kam 1944 für 45 Jahre bis zur Wende 1989/90 unter kommunistische Herrschaft sowjetrussischer Prägung und entwickelte sich nach der Wende zu einer parlamentarischen Demokratie. Österreich wurde und blieb - mit Unterbrechung durch den Ständestaat 1934/38 und durch den Anschluß an das Dritte Reich 1938/45 - bis zum heutigen Tag eine parlamentarische Demokratie.

Diese historische Entwicklung findet in den Beiträgen ihren Niederschlag. Die positiven und konstruktiven Beziehungen beider Länder - auch unter den schwierigen Bedingungen zweier Weltkriege, einer politisch, wirtschaftlich und sozial labilen und bisweilen desaströsen Zwischenkriegszeit sowie einer viereinhalb Jahrzehnte währenden und durch zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche Ideologien belasteten Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg - ziehen sich als roter Faden durch den Band. Auch das Fehlen gemeinsamer, oft konfliktbeladener Grenzen förderte die guten Beziehungen. Alle diese Faktoren wurden von den Autoren gewissenhaft beachtet.

Radoslav Mišev stellt in seinem Aufsatz die Wiederherstellung und den politischen Aufbau des bulgarischen Staates nach 1878 als langsamen und schwierigen Prozeß der Modernisierung des Dritten Bulgarischen Zarenreiches bis zur Anpassung an das wirtschaftlich und politisch entwickelte Österreich-Ungarn dar. Das waren die Voraussetzungen für die dynamische Entfaltung der beidseitigen Beziehungen. Mišev führt realistisch diese Dynamik nicht nur auf die Modernisierung der Gesellschaft in Bulgarien, sondern auch auf die politische Mobilisierung der einzelnen sozialen Schichten, auch im Hinblick auf eine wirksame Außenpolitik, zurück. Diese Motive waren zum ersten Male bei der Regierung Stambolov zu erkennen, die von Mišev als Richtschnur für die Verstärkung und Verbreiterung der Kontakte bewertet wird.

In den folgenden Beiträgen zeichnet Rumjana Prešlenova die Konturen der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Bulgarien und der Donaumonarchie von 1878 bis

1914, während Milčo Lalkov , Wolfdieter Bihl und Stilijan Nojkov verschiedene Aspekte der bulgarisch-österreichischen Beziehungen während des Ersten Weltkrieges beleuchten. Die vier Historiker betonen, daß diese Beziehungen die typischen Merkmale einer vertikalen internationalen Struktur in der gleichen Epoche aufzeigen, d.h. das Verhalten eines stärkeren gegenüber einem schwächeren Staat. Sie unterstreichen auch, daß Österreich-Ungarn - wie jede Großmacht - sein Verhalten häufig aus der Position der Stärke bestimmte. Die Bevormundung, manchmal auch der direkte Druck, begleiten oft die diplomatischen, politischen und militärischen Aktionen Wiens in bezug auf Bulgarien. In der Geschichte ihrer Beziehungen kommen aber auch Jahre vor, in denen Loyalität und korrekte Zusammenarbeit das Diktat und die auferlegten Kompromisse ersetzen. Sogar dann, wenn die wirtschaftlichen Interessen und staatlichen Strategien disharmonieren, finden beide Staaten Möglichkeiten für eine positive Entwicklung ihrer Beziehungen. Die angeführten Autoren weisen überzeugend nach, daß Wien und Sofia zwischen 1878 und 1918 redlich Möglichkeiten für eine produktive Zusammenarbeit verfolgten und fanden. Somit leisteten beide einen positiven Beitrag zur Bewältigung der komplizierten Beziehungen zwischen Groß- und Kleinstaaten. Die genannten Beiträge sind eine gelungen Analyse der Bemühungen der damaligen europäischen Diplomatie um eine Harmonisierung der Interessen, um eine Beilegung von Differenzen, um erfolgreiche und erfolglose Versuche zur Beruhigung der zwischenstaatlichen Beziehungen an der Schwelle der großen Weltereignisse am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts.

Radoslav Mišev , Milčo Lalkov und Wolfdieter Bihl weichen auch der bulgarischen nationalen Frage - einem heiklen Thema der beidseitigen Beziehungen - nicht aus. Im Gegenteil: Sie wird eingehend in den Beiträgen von Lalkov und Bihl behandelt. Beide Autoren betrachten die „Makedonien-“ und die „Dobrudža-Frage“ als jeweils einigende oder trennende Momente in den Beziehungen zwischen Wien und Sofia. Grundsätzlich bietet eine solche Problematik ein weites Feld für den Gegensatz zwischen objektivem Bemühen professionellen historischen Forschens und den subjektiven, mehr oder weniger emotionellen Intentionen und Interpretationen von Recht und Unrecht im internationalen Leben. Es werden verschiedene Ansichten bestritten, Handlungen und Schritte der beteiligten Seiten beurteilt, Veränderungen der außenpolitischebn Strategien und Taktiken verfolgt, der Wechsel zwischen freundschaftlichem und reserviertem Unterton im diplomatischen Spiel registriert.

„Bulgarien und Österreich zwischen zwei Weltkriegen“ - so lautet der Beitrag von Arnold Suppan . Er ist ein Musterbeispiel der Methode des historischen Vergleichs. In zwei parallel verlaufenden Prozessen - die Entwicklung Österreichs und Bulgariens zwischen den Weltkriegen - sieht der Autor eigentlich eine konkrete Übereinstimmung mit gesamteuropäischen Entwicklungstendenzen und Prozessen während dieses Zeitraumes. Die Folgen der Friedensverträge, der Zerfall der großen Wirtschaftsräume, „die Staatsnation“ und die Minderheiten, die Staats- und Gesellschaftsstrukturen, die Märkte, der Import von Kapitalien und Investitionen, die Weltwirtschaftskrise, die außenpolitischen Orientierungen, usw. - all diese komplizierten und miteinander verflochtenen Fragen werden auf den Hintergrund der österreichischen und bulgarischen Entwicklung während der Nachkriegsjahrzehnte projiziert. Vor diesem Hintergrund entstehen die wachsenden revisionistischen Tendenzen im außenpolitischen Verhalten beider Kleinstaaten. Die vielfältigen Einschnitte, die die Nachkriegs- und Zwischenkriegszeit in Österreich und Bulgarien charakterisieren, erlauben Suppan noch andere vergleichbare Momente in Politik und Wirtschaft, in Kultur und Gesellschaft aufzuzeigen. Der Autor deckt Beweggründe für die Außenpolitik der Regierungen beider Staaten auf, die scheinbar unausweichlich zum „Anschluß“ und zum Beitritt Bulgariens zum Dreimächtepakt führten.

Ein zweiter Beitrag Stilijan Nojkovs beleuchtet die Kriegshandlungen der Ersten Bulgarischen Armee im Herbst/Winter 1944 und im Frühjahr 1945. Die Originaldokumente sind von großer Beweiskraft für die Schlußfolgerungen des Autors. Die Teilnahme der bulgarischen Armee an der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs führt von der Baranya bis Klagenfurt, und somit sind die bulgarische und die österreichische Kriegsgeschichte erneut verflochten. Die Kampfhandlungen der bulgarischen Verbände sind ein Beitrag zur Zerschlagung der Deutschen Wehrmacht kurz vor Kriegsende.

Die Aufmerksamkeit des Lesers verdient der Aufsatz von Peter Bachmaier „Bulgarien in der Politik Österreichs: politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen 1945 bis 1996“. Das Interesse ist berechtigt, da sich der Autor zwischen historischer Forschung und politologischer Analyse bewegt. Er hält Abstand von vorgefaßten Meinungen und versucht die Nachkriegsbeziehungen zwischen Österreich und Bulgarien möglichst objektiv und vollständig zu verfolgen. Diese Beziehungen werden vor allem in drei Hauptaspekten vorgestellt: als politische, wirtschaftliche und kulturelle. In ihrer Gänze werden diese Beziehungen als Beispiel für Korrektheit, Loyalität und für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit bewertet. Ihre jahrzehntelange Entwicklung verläuft trotz ideologischer Unterschiede und fühlbarer Distanz zwischen staatspolitischen Systemen positiv. Der Verfasser, ein Experte für die Geschichte der Kultur und des Unterrichtswesens in früheren sozialistischen Staaten, stellt in einer positiven Auslegung die bulgarisch-österrreichischen Beziehungen zur Zeit Ljudmila Živkovas in ihrer Eigenschaft als staatliche und parteipolitische Leiterin der bulgarischen Kultur dar. Interessant sind auch Bachmaiers Überlegungen zur Fortsetzung der kulturellen Beziehungen in der Periode nach 1989. Mit Fakten, Vergleichen und Folgerungen beweist er die mehrmals bestätigte historische Wahrheit, daß die Zusammenarbeit in den Bereichen Kultur und Wissenschaft schnell die Grenze der ideologischen und politischen Konfrontation überwindet.

Eigentlich ist das auch die Grundlage der Beiträge von Georgi Stoilov und Kristina Popova . Darin werden aufeinanderfolgend die kulturellen und wissenschaftlichen Kontakte zwischen Bulgarien und Österreich während der Nachkriegsperiode und das Studium bulgarischer Studenten an der Wiener Universität von 1918 bis 1938 behandelt.

Die vorhandenen Quellen und die Folgerungen der Autoren beweisen auf unbestreitbare Weise den bedeutenden Platz, den Österreich in der historischen Entwicklung der bulgarischen Kultur und Wissenschaft einnimmt. Die geistige Ausstrahlung Österreichs in die bulgarischen Länder ist so vielseitig und tief, daß sie sich kaum auf die Entfaltung der bulgarischen Intelligenz oder gar auf den traditionell starken Einfluß auf die Entwicklung der Musik in Bulgarien beschränken kann. Hier ist die Rede von einer jahrhundertelangen Tradition der geistigen Kontakte, einer Tradition voll guter Taten und Optimismus für die Zukunft der beidseitigen Beziehungen. Und die Geschichte ist nützlich, nicht nur, weil wir in ihr die Vergangenheit lesen, sondern weil wir aus ihr auch die Zukunft herauslesen könnten.

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