Miscellanea Bulgarica 14, Wien 2001


DIE WIENER SLAWISTIK UND DIE BULGARISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 1822-1849-1918

VLADKO MURDAROV

ABSCHLIESSENDE WORTE

Der Inhalt der bulgarischen geistigen Wiedergeburt bestimmte das romantisch aufklärerische Herangehen an die Wiederherstellung, Belebung und Neusystematisierung der kulturhistorischen Werte der bulgarischen Vergangenheit allgemein aus der Position eines Nationalgefühles heraus, welches frei von extremem Chauvinismus und kosmopolitischen Ideen war, jedoch durch die humanistischen Gedanken der Menschheit bereichert wird.

Dieses Interesse wurzelte auch im Fundament der bulgarischen Wissenschaft, deren Entwicklungsanfänge in der Blüte der Wiedergeburt mit einem neuen Verständnis für die Rolle des Schrifttums bei der Lösung der großen Nationalitätsaufgaben lagen, wobei die Gründung der Bulgarischen Vereinigung der Literaten _ eingangs als beschränkter historisch-literarischer Kreis, dennoch mit weitreichenden Aufgaben und Vorhaben gedacht _ von besonderer Bedeutung war.

Im Einklang mit den Errungenschaften europäischer Ideen- und Kulturströmungen, aber auch infolge eigenständiger Entwicklung wurde die Interessenreichweite dieser Vereinigung allmählich immer mehr ausgebaut und mit der Konstituierung des neuen bulgarischen Staates besonders vertieft. Zur Beschleunigung dieser Prozesse trug auch die Gründung der Hochschule in Sofia bei, in der von Anfang an die verschiedenen Geisteswissenschaften und insbesondere die Philologie erblühten.

Zur gleichen Zeit, insbesondere nach der Befreiung, machte die bulgarische Philologie ihre ersten Schritte. Daher war es selbstverständlich, daß sich der Inhalt der bulgarischen Sprachwissenschaft infolge der nationalen, politischen, philosophischen und moralischen Auffassungen der Wissenschaftler, aber auch unter dem Einfluß der Stimmungen und Bemühungen der Epoche durch betontes Interesse an der kulturhistorischen Tradition kennzeichnete. Parallel damit begann aber eine wissenschaftlich begründete Sprachplanung, dank welcher der gediegene und eigenständige Charakter der bulgarischen Sprachwissenschaft vorwiegend auf der Grundlage des ausgewählten Forschungsobjektes gestaltet wurde.

In ihrem nationalen und publizistischen Pathos besaß diese Wissenschaft dennoch viele Merkmale, die auch die wissenschaftlichen Bemühungen der anderen Slawen infolge ihrer Parallelentwicklung aufwies. Selbstverständlich wurde die Ähnlichkeit vor allem durch die Tatsache bestimmt, daß sich die meisten slawischen Völker bis dahin unter nationaler Abhängigkeit und Unterdrückung befanden, jedoch die Eigenständigkeit begehrten, was bei einigen bereits erfolgt war, bei anderen noch bevorstand.

Die Gründe für die Ähnlichkeit der wissenschaftlichen Beschäftigungen waren jedoch auch in den stetigen, oftmals in den modernen Untersuchungen unbewußt außer Acht gelassenen Bemühungen der bulgarischen Wissenschaftler zu suchen: in ihrer Entwicklung wollten sie auch den konkreten Kontakt mit der allgemein menschlichen und slawischen Kulturentwicklung pflegen, um davon Ideen zu übernehmen und eigene Lösungen anzubieten. Diese Idee, die sie von Anfang an ganz konsequent verfolgten, war eigentlich nicht nur unter dem Einfluß der auf indirektem Wege an die bulgarischen Wissenschaftler gelangten Vorstellungen über die Einheit des Slawentums und seiner Wissenschaft entstanden, auch nicht durch die Bildung, die sie ursprünglich an den slawischen Universitäten und an den Universitäten mit stark entwickelter Slawistik erhalten hatten. In ihrer eigentlichen wissenschaftlichen Tätigkeit strebten sie bewußt danach, auch nach dem Ende der Romantik die Idee der slawischen Gegenseitigkeit schöpferisch weiterzuentwickeln.

Daher war es ganz selbstverständlich, daß die bulgarische Sprachwissenschaft sehr früh den Kontakt mit den wissenschaftlichen Bemühungen in der Hauptstadt der Donaumonarchie aufnahm. Für eine derartige Entwicklung erwiesen sich einige Faktoren als entscheidend.

Noch während der Bulgarischen Wiedergeburt begann gerade in Wien die eigentliche wissenschaftliche Erforschung der bulgarischen Sprache und ihrer Geschichte. Bartholomäus Kopitar und Vuk Karadžic wirkten nicht nur daran mit, daß die bulgarische Sprache von der europäischen Wissenschaft entdeckt wird, sondern trugen auch zur Popularisierung der bulgaristischen Problematik bei. Später verließen sich die bulgarischen Literaten auf die Autorität von Franz Miklosich, daß auch durch seine wissenschaftlichen Untersuchungen dieses Interesse fortgesetzt und vertieft wurde. So hatte der Kontakt mit Wien seine mehrjährige Tradition und daher war es ganz selbstverständlich, daß die ersten wahren bulgarischen Wissenschaftler dort nach Kontakten suchten.

In Anbetracht des Interesses und der tiefgründigen Behandlung der Hauptprobleme der Slawistik um die Jahrhundertwende wurde Wien bereits von den ersten bulgarischen Sprachwissenschaftlern und Philologen als Mittelpunkt der slawischen Philologie aus West, Süd und Ost empfunden. Die Hauptstadt der multinationalen Monarchie spielte für das Slawentum nach wie vor jene Rolle eines eigenartigen Zentrums, die sie noch während der Zeit von B. Kopitar und insbesondere von Fr. Miklosich gespielt hatte. Es war kein Zufall, daß hier Wissenschaftler aus allen slawischen Ländern zusammenkamen, um systematisierte Kenntnisse zu erlangen oder ihre wissenschaftliche Sicht zu erweitern. Und das waren nicht nur die Vertreter der Slawen, die innerhalb der Grenzen der Donaumonarchie lebten, sondern auch solche aus anderen slawischen Ländern und aus den übrigen Ländern mit entwickelter Slawistik.

Die zentralisierende Rolle der Wiener Universität als Mittelpunkt, die von früh an zur kategorischen Bezeichnung ”Wiener Schule der Slawistik” berechtigte, kam vor allem dank der Präsenz der nächsten Generation zustande _ dank Vatroslav Jagic und seinen Schülern und Kollegen. Als ehemaliger Professor an den russischen Universitäten, an Universitäten in Deutschland, später als Universitätsprofessor in Wien, als Mitglied der russischen Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Mitglied verschiedener slawischen Akademien und gleichzeitig auch als ordentliches Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Österreich-Ungarn war V. Jagic der gesamten slawischen Welt bekannt und stellte eine von ihr anerkannte wissenschaftliche Größe dar. Seine Beschäftigungen mit der Slawistik waren in Gänze bekannt und die Ergebnisse daraus wurden hochgeschätzt. Bekannt waren aber auch seine weiteren Interessen und die gesamte Fürsorge für die intellektuelle Entwicklung und Behauptung des Slawentums.

Zur zentralisierenden Rolle der Wiener Universität während der Zeit von V. Jagic trugen durch ihre Präsenz auch die ersten Lehrkräfte am Slawischen Seminar wie František Pastrnek und Karel Štrekelj und insbesondere der Co-Direktor Konstantin Jirecek bei, der mit seinem Werk auch eine Art Verbindung zwischen den Slawen verwirklichte. In seinen tiefgründigen und vielseitigen Untersuchungen war sein Augenmerk teilweise auf den slawischen Westen, doch vor allem auf den slawischen Süden gerichtet.

Die Einbeziehung von Milan Rešetar und Václav Vondrák, die als nächste Generation die Tradition der Wiener Schule der Slawistik fortsetzten, war auch von Bedeutung. Ihre Untersuchungen, mit denen die erste große Periode in der Geschichte slawistischer Forschungen in Wien endete, ergänzten sich gegenseitig und trugen sowohl zur Bereicherung des wissenschaftlichen Programms des Slawischen Seminars bei, als auch zur Durchsetzung seiner Forschungsmethoden.

Daher wurden die Kontakte mit allen Professoren _ und somit auch mit der gesamten Wiener Schule der Slawistik allgemein _ überall als besonders notwendig und erwünscht bewertet. Die Autorität von V. Jagic und K. Jirecek verhalf immer zu strenger Selbstkritik bei der Realisierung der wissenschaftlichen Bemühungen; mit ihrer Tiefgründigkeit und unverhohlenen Sympathie und Anteilnahme bemühten sich beide Professoren, sowie ihre Kollegen und Nachfolger darum, alle derartigen Untersuchungen auf den von ihnen als einzig richtig bezeichneten Weg zu lenken.

Der Kontakt mit der Wiener Schule der Slawistik trug wesentlich dazu bei, daß die an den europäischen Universitäten bewährte historisch-vergleichende Methode in der bulgarischen Sprachwissenschaft durchgesetzt wurde. Jahrzehntelang übernahmen die bulgarischen Wissenschaftler dieses Herangehen, und auch nachdem es in den anderen Zentren der Slawistik durch modernere Methoden ersetzt wurde, wandten sie es in ihren Forschungen weiter an. Das Interesse der Wiener Schule der Slawistik am Ursprung und an der Entwicklung der bulgarische Sprache als selbständige Slavine nach dem Wegfall anderer Theorien über die Entstehung der ersten slawischen Literatursprache, erfüllte die bulgarischen Sprachwissenschaftler mit Stolz, und daher streben sie in dieser Hinsicht die Unterstützung und Bereicherung der Forschungen an. Diese Tätigkeit verrichteten sie sowohl selbständig, als auch in Zusammenwirken mit den Wiener Slawisten. Dabei standen ihre Forschungen für lange Zeit im Einklang mit den modernsten Forschungsmethoden und wurden daher von der slawistischen Gemeinschaft akzeptiert und die Ergebnisse daraus auch in anderen Untersuchungen angewandt.

Während der gesamten Zeit der Leitung des Slawischen Seminars in Wien durch V. Jagic und K. Jirecek verwandelte sich ihr Interesse, das Interesse ihrer Schüler und Mitarbeiter an Bulgarien, an seinem Volk, an dessen Kultur und Sprache in eine Art Anreiz für viele bulgaristische Untersuchungen und trug somit dazu bei, daß der nutzbringende Kontakt stetig und aktiv gepflegt wurde.

Die Zeitschrift von V. Jagic Archiv für slavische Philologie, die Ausgaben des Slawischen Seminars, der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaft, sowie ihrer Balkan-Kommission waren für die bulgarischen Wissenschaftler nicht nur eine wertvolle Quelle tiefgründiger Untersuchungen, sondern auch ein Mittel zur Popularisierung der bulgarischen Sprache und der bulgaristischen Wissenschaft, zum Aufbau ihrer Autorität auf der internationalen Ebene der Zusammenarbeit _ nicht nur unter den Slawen, sondern auch unter den anderen europäischen Ländern und insbesondere im deutschsprachigen Raum.

Ihrerseits waren auch die bulgarischen Gelehrten selbst bestrebt, der kulturellen Öffentlichkeit in Bulgarien die Bemühungen und Erfolge der in dieser Zeit an der Wiener Universität in stürmischer Entwicklung begriffenen Slawistik zu propagieren, die die gemeinsamen Fundamente der Slawistik aufbaute. In ihren Fachzeitschriften, aber auch in anderen Ausgaben berichteten sie über all ihre bedeutenden Errungenschaften. Auf diese Art trugen sie auch zur Popularisierung der eigenen Wissenschaft und der slawischen Philologie allgemein bei. Gleichzeitig stellen sie auf den Seiten ihrer wissenschaftlichen Organe auch Vertreter der Wiener Slawistik vor, um zu deren Popularisierung und auch zur Gestaltung der bulgarischen Sprachwissenschaft beizutragen.

Mit dem Etablieren der bulgarischen Sprachwissenschaft und der Bulgaristik allgemein zu einer der Hauptdisziplinen der Slawistik leisteten die bulgarischen Wissenschaftler auf ihre Weise den Beitrag zur Lösung einer Reihe wichtiger Fragen auf dem Gebiet der Wissenschaft über das Slawentum. Somit wirkten sie konkreter daran mit, daß auf der Basis der Kultur und der Wissenschaft die slawische Wechselseitigkeit erzielt wurde, die in der Zeit der Romantik geboren, später, besonders um die Jahrhundertwende, neue Ausmaße und Richtungen bekam.

Die Namen der mehr oder weniger bekannten bulgarischen Gelehrten Marin Drinov, Ljubomir Miletic, Benjo Conev, Iv. D. Šišmanov, Aleksandar Teodorov-Balan, Manol Ivanov, Stojan Argirov, Dimitar Matov, Georgi Balascev, Stefan Mladenov, Aleksandar D. Pironkov, Hristo Popstoilov, Stefan L. Kostov, Pavel Oreškov _ allesamt Wissenschaftler, die sich in Bezug auf Autorität, Temperament, Bemühung und Ausdruck unterschieden, müssen daher heutzutage in der Geschichte der slawischen Philologie neben dem Namen von Vatroslav Jagic stehen, neben den Namen seiner Vorgänger Bartholomäus Kopitar und Franz Miklosich, seiner Kollegen, Mitarbeiter und Nachfolger Konstantin Jirecek, Vatroslav Oblak, Karel Štrekelj, František Pastrnek, Václav Vondrák und Milan Rešetar, inmitten der ”einheitlichen Gesellschaft der Arbeiter auf dem Gebiet der Slawistik” aus den letzten Jahren des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, von der V. Jagic in den abschließenden Worten zu seiner Geschichte der slawischen Philologie sprach.

Für ihren Beitrag, den sie nicht nur für die Bulgaren, sondern auch für das Slawentum und seine Wissenschaft allgemein geleistet haben, haben alle diese die hohe Wertschätzung der Geschichtsschreiber dieser Wissenschaft verdient: als Wissenschaftler, die sich mit ihrem Wirken und ihrer Selbstlosigkeit der Hochachtung und Verehrung aller Slawen würdig erwiesen.

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