Miscellanea Bulgarica 14, Wien 2001


DIE WIENER SLAWISTIK UND DIE BULGARISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 1822-1849-1918

VLADKO MURDAROV

EINLEITENDE WORTE

Im Jahre 1988 veröffentlichte der damalige Verlag Narodna prosveta (Volksbildung) mein Buch Viena i nacaloto na balgarskata ezikoslovna nauka (Wien und die Anfänge der bulgarischen Sprachwissenschaft). Als das Buch auf die Welt kam, wurde es von meinen Kollegen, Bulgaristen und Slawisten, außerhalb Bulgariens in angesehenen Zeitschriften wie der Berliner Zeitschrift für Slawistik, der Münchner Südost - Forschungen u.a. sehr wohlwollend aufgenommen. Sie gerade brachten mich auf den Gedanken, daß ich in ein Gebiet eingedrungen war, welches - trotz der bereits jahrhundertelangen Tradition, aber auch der vielen Untersuchungen der letzten Jahre - in der Geschichte der slawischen und insbesondere der bulgarischen Philologie bislang als nicht ausreichend erforscht gilt.

Das Drucken des Buches war für mich nicht das Ende, sondern nur der Anfang meiner Beschäftigungen auf dem behandelten Gebiet. Weil es galt, viele der Fakten, die ich in meinem Buch nur erwähnt hatte, näher zu präzisieren, zu ergänzen, manchmal sehr wesentlich sogar. Und zusammen damit tauchten noch viele neue Fragen auf, die auch berücksichtigt werden sollten. Es entstanden ganze neue größere und kleinere Themenkreise, die einbezogen werden sollten, da sie mit der untersuchten Thematik in unmittelbarem Zusammenhang stehen.

So kam es zu diesem neuen Text, der eine wesentliche Erweiterung und Bereicherung meiner ursprünglichen Beschäftigungen mit den fruchtbringenden Beziehungen der bulgarischen Sprachwissenschaft und ihren Vorboten zur Wiener Slawistik für eine Zeit von nahezu 100 Jahren darstellt.

Die Wahl der Kontakte mit der Wiener Slawistik, Objekt dieser Untersuchung, wurde nicht zufällig getroffen, sondern berücksichtigt, daß sie als Hauptteil der österreichischen Slawistik eine relativ vollständige wissenschaftlich - historische Einheit im Rahmen der europäischen Slawistik darstellt, obwohl ihre Vertreter unterschiedlicher Nationalität sind und sich ihr Schaffen manchmal auch als Ausdruck der Geschichte der Wissenschaft der einzelnen Nationen erweist wie manchmal in wissenschaftlichen Arbeiten herangegangen wird insbesondere, wenn sich diese Wissenschaftler auch als Lehrer in ihren Heimatländern betätigt haben.

In der untersuchten Periode stellt Wien für lange Zeit einen vom kulturell - soziologischen Standpunkt heraus privilegierten natürlichen Mittelpunkt der europäischen wissenschaftlichen Kommunikation dar, in welchem auch in Anbetracht der verabschiedeten Landesverfassung die Fundamente der nationalen wissenschaftlichen Forschungen über die West - und Südslawen gelegt werden, und es ist selbstverständlich, daß sich auch die bulgarische philologische Wissenschaft mit Wien verbindet.

Ähnlich der vorangegangenen, wird auch in dieser Studie die Bedeutung der Wiener Universität und des daran gegründeten Slawischen Seminars, d. h. der Wiener Schule der Slawistik, nicht nur für den geistigen Austausch, sondern auch bei der Absonderung und der Entwicklung der bulgaristischen Wissenschaft und insbesondere der bulgarischen Sprachwissenschaft gründlich behandelt. Dabei wird der große unmittelbare Beitrag hinsichtlich der bulgarischen Verhältnisse berücksichtigt, auch die Möglichkeit, durch den Ruf dieses in Europa geachteten Instituts sowohl die in Wien erzielten Erfolge der Wissenschaft zu popularisieren, welche die bulgarische Sprache, bulgarische Literatur, die bulgarischen Folklore und Ethnographie, d. h. die bulgarische Philologie betreffen, als auch den Erfolg der Wissenschaft in Bulgarien auf diesem Gebiet von ihren ersten Schritten an bis zu ihren ersten bedeutenden Erfolgen, damit auch ihre weiteren Untersuchungen gefördert und andere ausländischen Forschungen in dergleichen Richtung stimuliert werden.

Auch diesem Text, der den Ehrgeiz hat, in Übereinstimmung mit der untersuchten Periode eine umfangreiche, vorwiegend philologisch positivistische, jedoch auch relativ vollständige historisch - bibliographische Übersicht und Analyse zur umschriebenen Thematik darzustellen, liegen eine Reihe von Forschungen über die Geschichte der slawischen Wissenschaft und Philologie zugrunde: in ganz Europa und insbesondere in Österreich; theoretische Untersuchungen über die Forschungsmethodologie eines solchen spezifischen Objektes, wie es die Geschichte der slawischen Philologie ist, Materialien und Publikationen aus den Archiven der Wiener Universität, des Slawischen Seminars selbst, der Akademie der Wissenschaften zu Wien, die insbesondere in dem in der Studie behandelten Zeitraum zu den slawistischen und balkanistischen Fragen vorwiegend durch ihre Balkan - Kommission in engem Kontakt mit ihm zusammenarbeitet.

In die Studie sind auch viele Materialien aus den Ausgaben der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften und der Sofioter Universität einbezogen, aus vielen im behandelten Zeitraum herausgegebenen Zeitschriften, aus den Archiven einzelner Personen, sowie eine Reihe konkreter wissenschaftlicher Werke und weitere Publikationen nicht nur der vorgestellten Wissenschaftler, sondern auch von vielen anderen Forschern aus dieser und aus einer späteren Zeit.

Die Spezifika der vorliegenden Untersuchung erfordert es, das besondere Augenmerk auf die darin angegebene Literatur zu richten, da sie ein untrennbarer Bestandteil der eigentlichen Ausführungen und nicht nur ein Nachtrag ist.

In Studien dieser Art wird die vom Autor verwendete Literatur oft getrennt vorgestellt. Einerseits werden die Werke der Wissenschaftler, die als Objekt der Untersuchung fungieren, aufgenommen; andererseits die Werke jener, die sich zur gleichen Zeit oder später mit ihrem Schaffen befassen. Hier aber war es notwendig, die betreffenden Quellen als ein Ganzes darzustellen, da die in der Untersuchung erforschten Wissenschaftler selbst oft auch als Gutachter vorgestellt werden als Rezensenten des Schaffens ihrer Kollegen und als Beobachter der Geschichte ihrer in Entwicklung begriffenen Wissenschaft. Nach den Ideen von V. Jagic und ihm auch ähnlich trägt die Mehrheit von ihnen sowohl zur Entwicklung der Slawistik als auch dazu bei, daß ihre Geschichte geschrieben wird.

Das Ziel vorliegender Studie war es, die mit dem Thema zusammenhängende Literatur möglichst vollständig zu benützen; der Akzent wird aber vorallem auf die bulgarischen Forschungen gesetzt, die ungeachtet einiger Erwartungen für die unterschiedlichen Zeiträume gar nicht so wenig sind.

Bei der Behandlung des verwendeten umfangreichen Materials wird im Allgemeinen berücksichtigt, daß die Beschäftigungen mit der Geschichte der Wissenschaft nicht nur das Schlußfolgern aus ihrer Entwicklung innerhalb einer gegebenen Zeit ermöglichen. Es ist nachgewiesen, daß durch das historische Herangehen an die wissenschaftlichen Theorien und ihre Dynamik der Fortschritt und die Veränderung innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin schlechthin am genauesten vorgestellt werden können. Gleichzeitig damit ermöglicht diese Methode auch die Berücksichtigung der aktuellen methodologischen, sozialen und gedanklichen Vorstellungen und Forderungen an den Autor in diesem oder jenem Maße. Das nämlich macht die historiographischen Werke überhaupt besonders wichtig und bedeutungsvoll in der Geschichte der Selbsterkenntnis der Wissenschaft.

Im vorliegenden Text werden die Beziehungen und der Einfluß einer Vielzahl von Persönlichkeiten auf die bulgarische philologische Wissenschaft konkret behandelt, und deren maßgebender Einsatz für ihre Popularisierung und die Popularisierung des Objektes ihrer Untersuchung inmitten europäischer Slawistik. Die historische Methode bei der Auslegung der Ereignisse verflechtet sich dabei in den Ausführungen sowohl mit ihrer (teilweisen) biographischen Vorstellung, als auch mit der Präsentation konkreter Themen wissenschaftlicher Untersuchungen, in denen der Zustand der slawistischen Wissenschaft aus dieser Zeit ganz klar widerspiegelt wird.

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache, daß die Persönlichkeiten, denen in den Ausführungen Aufmerksamkeit zuteil wird, immer nur Slawen sind, die aus welchem Grund auch immer in die Hauptstadt der Donaumonarchie und an deren Universität kommen; ein Teil von ihnen übersiedelt dann auch an andere europäischen Universitäten und überträgt seine Interessen und Beschäftigungen dorthin. (In den Untersuchungen über die Entwicklung der slawischen Philologie als Wissenschaft wird in den letzten Jahrzehnten auf eine als Hauptfaktum bezeichnete Tatsache besonders geachtet, ob es sich hierbei um die Entwicklung in einem slawischen oder nicht slawischen Land handelt. Im Falle von Österreich - Ungarn ist das Problem in dieser Hinsicht jedoch ziemlich kompliziert, weil obwohl dieser Staat nicht slawisch ein Großteil der Bevölkerung slawischer Herkunft ist und auch seine gesamte slawische Wissenschaft von slawischen Gelehrten aufgebaut wird und das hat seine selbstverständlichen Ergebnisse).

Die süd - und westslawischen Gelehrten, die an der Wiener Universität unterrichten, tragen zur Entwicklung der Slawistik bei, jedoch nicht so sehr aus ihrer Position eines Bürgers der Donaumonarchie oder als Träger bestimmter Religionsbekenntnisse heraus (wie manchmal in den Forschungen über die Epoche betont wird), sondern viel mehr von ihren aufrichtigen Gefühlen zum Slawentum geleitet, welchem sie getreu zu dienen bemüht sind, aber auch von der Idee über die Verwirklichung der romantischen „großen slawischen Einheit“, der sie zeit ihres wissenschaftlichen und schöpferischen Lebens sowohl in Wien als auch fernab dieser Stadt folgen, auch zu einer Zeit, als die Romantik als Epoche bereits verstrichen ist.

Dem Kroaten Vatroslav Jagic, oft die Koryphäe der europäischen slawischen Philologie aus dem Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts genannt, räumt die Studie den Hauptplatz unter diesen Gelehrten ein. Die Einschätzung, daß während er die slawistischen Forschungen in Wien leitete, die Wiener Schule der slawischen Philologie ihren eigentlichen europäischen Stellenwert erlangte und festigte, wird von allen geteilt. (Dabei endet die Präsenz von V. Jagic im Leben der Wiener Slawistik nicht mit seinem Emeritieren, weil auch seine, von ihm auserwählten Nachfolger ganz zielstrebig die gewählte Richtung fortsetzten).

Für den Inhalt der vorliegenden Untersuchung ist jedoch viel wesentlicher, wie dieser Gelehrte vom Akademiker Stefan Mladenov in seiner epochalen Istorija na balgarskija ezik (Geschichte der bulgarische Sprache) gewürdigt wird : „Alle Verdienste von Jagic um die bulgarische Sprachgeschichte könnten in einem umfangreichen Buch bewertet werden“1. Trotz des unterschiedlichen Einblicks in die Forschung, in der nur der Beitrag des großen Slawisten zur Entwicklung der bulgaristischen und bulgarischen Sprachwissenschaft behandelt wird, stellt es sich heraus, daß dieser Beitrag auch viele Seiten einer historischen Beschreibung ausfüllen kann.

Das Werk von Vatroslav Jagic kann nicht von der Zeit losgelöst behandelt werden. Daher kommt seinen Vorgängern, den Slowenen Bartholomäus Kopitar und Franz Miklosich, sowie dem Serben Vuk Karadžic (Letzterer mit bedeutendem Beitrag zur Entdeckung des bulgarischen Volkes und der bulgarischen Sprache für die europäische kulturelle und wissenschaftliche Öffentlichkeit) besondere Bedeutung zu, denn vor ihrem Hintergrund kommt der wissenschaftliche Beitrag des kroatischen Gelehrten noch stärker zum Vorschein. Der Zeitraum von ca. 50 Jahren vor der kategorischen Behauptung von Vatroslav Jagic als Autorität der europäischen Slawistik ist vom Standpunkt der bulgarischen Sprachwissenschaft eine Periode voller Leben und Tatendrang; sie kann daher nicht ignoriert werden, wenn man von der eigentlichen Entwicklung der Wissenschaft über die bulgarische Sprache in Bulgarien und in Europa spricht.

Die natürliche Wahl des Werkes von Vatroslav Jagic zum Mittelpunkt der Studie ist jedoch Grund genug dafür, daß das Material nach jener Zeit geordnet wird, in der dieser das Slawische Seminar in Wien gründete und leitete; auch nach dem Charakter jener Kontakte, die die bulgarischen Gelehrten mit ihm pflegten. Die übrigen österreichischen Gelehrten, wie der erste Lehrer am Seminar, der Slowene Karel Strekelj, ein Schüler von V. Jagic, der Slowene Vatroslav Oblak, Privatdozent an der Universität in Graz, die von V. Jagic zu unterschiedlicher Zeit als Professoren an der Wiener Universität herangezogenen Tschechen František Pastrnek und Václav Vondrák, der Kroate Milan Rešetar, sowie der extra eingeladene Professor für slawische Philologie und Altertumskunde an der Wiener Universität, der Tscheche Konstantin Jírecek , der für lange Zeit seine wissenschaftliche und öffentliche Tätigkeit mit der Geschichte Bulgariens als ihr Erbauer und Forscher eng verbunden hat, sind flüchtiger bewertet, und zwar nur im Zusammenhang mit der behandelten Thematik, jedoch unter Berücksichtigung ihres konkreten, größeren oder kleineren Beitrages zur Entwicklung der bulgarischen Wissenschaft und ihrer Kontakte mit den bulgarischen Gelehrten.

Matija Murko, der zur Entwicklung der bulgaristischen Problematik in der Slawistik beitrug und innerhalb des behandelten Zeitraumes 3 Jahre lang am Wiener Seminar für Slawistik unterrichtete, wird in der Studie nicht vorgestellt. Der Grund für diesen Entschluß ist folgender: während der Zeit, in der er an der Wiener Universität war, lernten dort keine Studenten aus Bulgarien; daher kann nicht behauptet werden, daß er als Lehrer die Entwicklung der bulgarischen Sprachwissenschaft beeinflußt hat.

Die Tätigkeit von Jan Leciejewski, Lehrer an der Wiener Universität zu Jagic’s Zeiten, wird von der Studie nicht behandelt. Dies nicht so sehr wegen seines traurigen Ruhms in der Geschichte der bulgarischen Wissenschaft mit jenem Schaden, den er ihr während der Universitätskrise 1907 zuzufügen versuchte, sondern aus der Tatsache heraus, daß er sich wegen seiner tiefgründigen Beschäftigungen nur mit der polnischen Literatur und Sprache niemals für die bulgarische Problematik interessiert hatte.

Die eigentliche bulgarische Sprachwissenschaft wird in der vorliegenden Studie durch die gesamte erste und einen Teil der zweiten Generation von Sprachwissenschaftlern vorgestellt, die am Wendepunkt zweier Jahrhunderte besonders aktiv waren: Aleksandar Teodorov - Balan, Ljubomir Miletic, Benjo Conev, Stefan Mladenov. Dem epochalen Werk von V. Jagic Istorija slavjanskoi filologii (Geschichte der slawischen Philologie) ähnlich, wird in Form von Abrissen auch eine Reihe früherer und späterer Sprachwissenschaftler Bulgaristen und Slawisten präsentiert, manche von ihnen auch heute noch in der Geschichte der bulgarischen Sprachwissenschaft völlig unbeachtet geblieben.

Um das Bild zu ergänzen, weist die Studie auch auf eine Gruppe bulgarischer Literaten der Wiedergeburt hin, die obwohl keine echten Gelehrten in großem Maße die Voraussetzungen für die Entwicklung der philologischen Wissenschaft in Bulgarien schufen. Das spezielle Interesse an ihnen ist insbesondere auf die Tatsache zurückzuführen, daß sie jahrzehntelang vor der eigentlichen Grundsteinlegung der bulgarischen wissenschaftlichen Forschungen den Kontakt mit der europäischen Slawistik suchten; nicht nur, um ihre eigenen Beschäftigungen zu präsentieren, sondern auch um überhaupt die literarische Tätigkeit in unserem Lande aufzuzeigen; um in ihrer Suche unterstützt zu werden, aber auch durch das von ihnen gesammelte umfangreiche Sprach - und (insbesondere) Folklorematerial die ausländischen Untersuchungen über die bulgarische Sprache, Literatur und Geschichte eigens zu unterstützen.

Außer den Sprachwissenschaftlern beachtet das vorliegende Werk auch andere Experten: Historiker, Literaturwissenschaftler, Völkerkundler, Ethnographen, die sich in unmittelbarem Zusammenhang mit den Vorstellungen über den Umfang der slawischen Philologie aus der Zeit von V. Jagic befaßten: als Komplex vieler, auf einem Forschungsobjekt beruhenden wissenschaftlichen Disziplinen mit einem anziehenden Forschungszentrum, aber auch mit tiefgründigen sprachlichen Beobachtungen; so leisteten sie ihren Beitrag zur Entwicklung der bulgarischen Sprachwissenschaft mal in sprachwissenschaftlichen Fachuntersuchungen, mal in sprachwissenschaftlichen Exkursen ihrer weiteren wissenschaftlichen Ausführungen.

Der Umfang der Untersuchungen der vorgestellten bulgarischen Gelehrten, denen eine Reihe allgemeiner oder konkreter Forschungen sowie ganze Bücher und Jubiläumsbänder gewidmet sind, ist groß, und das erfordert die Auswahl nur jener ihrer Werke, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der behandelten Thematik stehen.

Einen besonderen Platz widmet die Studie den 27 bulgarischen Studenten (darunter 6 Dissertanten), von denen der Großteil mit der Unterstützung des bulgarischen Ministeriums für Volksbildung, oftmals auch mit der konkreten Empfehlung der Lehrer an der Hochschule in Sofia, für längere oder kürzere Zeit an der Wiener Universität und an ihrem Slawischen Seminar studiert und gearbeitet hat.

Dabei wird ein langer Zeitraum erfaßt von 1849, als der Lehrstuhl für Slawistik gegründet wird (obschon der erste Student aus Bulgarien erst im Jahre 1872 daran inskribiert) bis 1918. Dort, wo die Angaben nicht ausreichend gewesen sind, wird vollständigkeitshalber nur angeführt, was die Studenten am Seminar gehört, womit sie sich während ihres Wien - Aufenthaltes beschäftigt haben, wobei bei allen der Versuch unternommen wurde, ihre Spuren in der Hauptstadt von Österreich - Ungarn auch nach Abschluß ihres oft kurzzeitigen Studiums aufzufinden, um zu zeigen, wie ihr Aufenthalt dort ihre weitere Entwicklung beeinflußt hat, die manchmal länger nach der vorwiegend behandelten Zeit gedauert hat.

In diversen, zu unterschiedlicher Zeit veröffentlichten historischen Materialien werden auch andere Namen bulgarischer Studenten erwähnt, von denen behauptet wird, sie haben an dem Jagic’schen Slawischen Seminar studiert. Beweise darüber wurden jedoch in der erhaltenen vollständigen Dokumentation des Archivs der Wiener Universität nicht gefunden; aus diesem Grunde können solche Studenten nicht das Objekt einer besonderen Aufmerksamkeit in der Studie sein, sind es auch nicht.

Mit der Einräumung, die Probleme des Periodisieren in der Geschichte der Weltslawistik sind unter den kompliziertesten methodologischen Fragen auf diesem Gebiet der wissenschaftlichen Kenntnisse, wird gewöhnlich in den wissenschaftlichen Untersuchungen über die Geschichte der Slawistik die Tatsache nicht bestritten, daß sie in ihrer Entwicklung über einige Etappen geht. In der vorliegenden Studie kommen eigentlich zwei davon vor. An erster Stelle ist es die Zeit der Behauptung der Slawistik als Wissenschaft, was im Allgemeinen mit der Gründung der Universitätslehrstühle für Slawistik endet.

Ohne dieser größtenteils überzeugenden Teilung besondere Aufmerksamkeit beizumessen, wird in den Ausführungen in besonderer Weise auf das Jahr 1849 hingewiesen, nicht nur weil damals an der Wiener Universität der Lehrstuhl für Slawistik eröffnet wurde, sondern auch weil ausgerechnet zu dieser Zeit in der Hauptstadt von Österreich - Ungarn die erste streng wissenschaftliche Untersuchung der bulgarischen Sprache erschien.

Die zweite in dieser Studie dargestellte Periode aus der Geschichte der Slawistik umfaßt die Zeit der Gestaltung und Behauptung der „klassischen“ Slawistik. In den historischen Werken zu dieser Problematik wird das Jahr 1918 gewöhnlich als Ende des Ersten Weltkrieges zur Zeitgrenze gewählt, als zusammen mit allen entstandenen wichtigen Problemen erneut die große Frage nach dem Umfang der slawischen Philologie als Wissenschaft gestellt wird. Andererseits wird bei den direkt mit Österreich verbundenen Forschungen immer wieder gerade das Jahr 1918 genannt, denn es zeichnet das Ende des Bestehens der Donaumonarchie.

In dieser Studie wird die Wahl dieses Jahres als Schluß der erforschten Periode aus einem ganz anderen Grund getroffen. Es wird mit dem Tod von Konstantin Jírecek in Verbindung gebracht, mit dem auch eine lange erste Etappe des Bestehens des slawischen Seminars in Wien endete, damit diese Etappe nach einer Unterbrechung von einigen Jahren mit ganz anderen Persönlichkeiten des slawischen wissenschaftlichen Lebens und mit völlig anderen Ideen und Forschungen fortgesetzt wird.

Den Beschäftigungen der bulgarischen Gelehrten jedoch wird in der Studie keine Zeitbegrenzung auferlegt, denn diese Untersuchung bezweckt den Nachweis, daß sich für viele von ihnen die Kontakte zur Wiener Slawistik in ihrer gesamten kürzeren oder längeren wissenschaftlichen Bildungstätigkeit in gewissem Maße als entscheidend erwiesen. Alle bulgarischen Slawisten nicht nur Sprachwissenschaftler, sondern überhaupt Philologen und Historiker _, die bis zum Tode von V. Jagic, 5 Jahre nach dem Tod von Konstantin Jírecek, mit ihm und somit auch mit dem Gedankengut der Wiener Slawistik überhaupt Kontakte, vorwiegend bezüglich der Sprachwissenschaft, unterhielten, sein Werk unmittelbar fortsetzten und seine Ideen mit ihren wissenschaftlichen Werken, mit Lehrmitteln und Nachschlagewerken, mit Artikeln in der Presse, mit ihrer Lehrertätigkeit an der Sofioter Universität und an den Mittelschulen bearbeiteten und erweiterten, sind durch ihr Schaffen und gesellschaftliche Aktivitäten auf den Seiten dieser Studie zu finden.

Vorliegende Ausführungen haben zum Ziel zu zeigen, daß die bulgarischen Sprachwissenschaftler mit der Breite ihrer Interessen und der Tiefgründigkeit ihrer Kenntnisse, mit der Präzision der Untersuchung und der Objektivität der Interpretation von ihren ersten Schritten an die Ehre des wissenschaftlichen Betätigungsfeldes verteidigen und auf diese Weise nicht nur zum Aufbau des Rufes der entstehenden bulgarischen Sprachwissenschaft vor der Welt, sondern auch zur Autorität des bulgarischen wissenschaftlichen Gedankengutes beigetragen haben.

Üblicherweise bewerten unsere Studien ihren wissenschaftlichen Beitrag und ihre Bedeutung nur innerhalb Bulgarien, nur für Bulgarien des Objektes ihrer Untersuchungen wegen, aber auch wegen nicht genügender Kenntnisse über den Zustand der ausländischen Slawistik aus dieser Periode und ihrer Forschungen . Auf diese Weise wird ihre Bedeutung für die europäische Wissenschaft, deren untrennbarer Bestandteil zu sein sie erfolgreich bestrebt waren, unbewußt außer Acht gelassen. Und dieser Prozeß dauerte während des gesamten langen Zeitraumes, der hier behandelt wird, auch viele Jahre danach.

Oft wird in unseren Studien die Tatsache ausgelassen, daß ungeachtet ihrer engen Verbundenheit mit der nationalen Kultur die bulgarische Philologie immerhin in großem Maße als Ergebnis einer völlig bewußten „Europäisierung“ der in der untersuchten Periode vorherrschenden westeuropäischen Formen des Denkens und ihrer Anpassung an die spezifischen bulgarischen Bedingungen zu betrachten ist. Andererseits, wenn auch seltener, wird eine parallele Entwicklung beobachtet, die der Entwicklung innerhalb der westeuropäischen Wissenschaft ähnlich ist. Aus diesem Grunde kann behauptet werden, daß die bulgarische Philologie als wissenschaftliches Fach von Anbeginn ihrer Entstehung in dem Integrationsprozeß der westeuropäischen Wissenschaft eingebunden war und diese Kontakte für lange Zeit befolgte und pflegte.

Gerade das macht die Behandlung der Tätigkeit der bulgarischen Philologen in einem breiteren Kontext unbedingt erforderlich. Die als Forschungs - und Beschreibungsobjekt ausgewählten konkreten Kontakte zur Wiener Slawistik waren nicht zufällig, weil sie vor allem zum Fundament der Entwicklung der west - und südslawischen Slawistik wurden, und auch unter den ostslawischen Gelehrten einen wesentlichen Einfluß ausübten.

Für die bulgarischen Philologen waren Wien und sein Slawisches Seminar das Sprungbrett zum Erreichen exakt definierter Ziele. Denn schon seit der Zeit der Wiedergeburt bedeutete für den Bulgaren der Name Wien Europa schlechthin. Die Verbindung zu dieser Stadt versprach ihm allseitige Kontakte, die ihm als Wissenschaftler im Namen des Erfolges seiner eigenen Wissenschaft und im Namen der künftigen wissenschaftlichen Zusammenarbeit im Interesse Bulgarien in der behandelten langen Zeit wirklich gelangen.

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